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Perspektiven für die europäische Verteidigung 2020

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Im Januar 2003 wurde in Bosnien und Herzegowina die erste Polizeimission im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) durchgeführt. Die allererste GSVP-Militärmission, diesmal in Afrika, sollte wenig später folgen, denn bereits im Juni desselben Jahres wurden rund 1 500 – überwiegend französische – Soldaten unter Führung von General Bruno Neveux in Rekordzeit in die Demokratische Republik Kongo verlegt, um der Belagerung der Stadt Bunia ein Ende zu setzen. So nahm die Politik, der sich der Europäische Rat vor nun über zehn Jahren auf seiner Tagung am 4. und 5. Juni 1999 in Köln verschrieben hatte, konkrete Gestalt an. Als sie die GSVP aus der Taufe hoben, wollten die europäischen Staats- und Regierungschefs eine Botschaft vermitteln, nämlich ihr Bekenntnis zu einem "Nie wieder", und sie wollten einen Wendepunkt herbeiführen, nachdem sie in den Jahren zuvor auf dramatische Weise versagt hatten und nicht einmal im Stande gewesen waren, die schlimmsten Auswüchse des wiedererwachten extremen Nationalismus zu unterbinden und insbesondere dem Völkermord von Srebenica 1995 Einhalt zu gebieten. Das "Trauma" von Bosnien und die bitteren Erfahrungen, die sie dort machen mussten, haben Frankreich und Großbritannien bewogen, ihre Kräfte zu bündeln und Ende 1998 die Erklärung von Saint-Malo zu unterzeichnen. Sie beschlossen, ihre Meinungsverschiedenheiten hintanzustellen und eine europäische Verteidigung in Gang zu setzen in dem Bestreben, der EU die erforderliche "Autonomie" und "Glaubwürdigkeit" zu verleihen und die militärische Zusammenarbeit in Europa zu verstärken. Dass es damals überhaupt zu einer GSVP kam, zeigt, dass die Europäer endlich bereit waren, das Tabu zu brechen, das seit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im Jahr 1954 auf der Verteidigung gelastet hatte. In diesem Buch wollen wir der Frage nachgehen, welche Ziele Europa im Bereich der Sicherheit und Verteidigung in den nächsten zehn Jahren anstreben könnte – oder genauer ausgedrückt, wir wollen versuchen zu beschreiben, wie diese Ziele aussehen und wie sie in konkrete Politik und Strategien umgesetzt werden sollten. Allerdings können wir zum Zeitpunkt der Drucklegung noch nicht voll abschätzen, welche Auswirkungen die Weltwirtschaftskrise auf die verteidigungspolitischen Entscheidungen und die Verteidigungshaushalte haben wird und, was noch wichtiger ist, wir wissen nicht, in welcher Weise sich die Machtverteilung auf globaler aber auch auf europäischer Ebene in der Folge verändern wird. Auch können wir nicht vorhersagen, ob Paris und London jemals gemeinsam zu der Eingebung und Übereinstimmung finden werden, deren es bedarf, um den Geist von Saint-Malo wieder aufleben zu lassen. Auch ist noch nicht abzusehen, ob das "Experiment Obama" in den Vereinigten Staaten zum Erfolg führen oder scheitern wird; hiervon hängt es ab, welche Rolle die EU künftig auf der Weltbühne spielen wird. Wird sich das multilaterale Konzept politisch verwirklichen lassen, wird es ausreichen, um "die Multipolarität zu multilateralisieren" und auf diese Weise eines Tages zu einer Welt der Normen und Regeln zu gelangen, also die Rahmenbedingungen zu schaffen, welche die beste – vielleicht sogar die einzige – Gewähr dafür bieten, dass das europäische "Modell" den Erwartungen uneingeschränkt gerecht werden kann? Oder bewegen wir uns im Rückwärtsgang und fallen – unseren gemeinsamen Anstrengungen zum Trotz – wieder zurück in eine "multipolare" Welt, die von den Spannungen und Gefahren, die der Wettbewerb zwischen Großmächten mit sich bringt, beherrscht wird?