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Wahlen in einem veränderten Land

21 July 2007

Man mag von der Europareife der Türkei halten, was man will, Tatsache ist, dass das Land seit nun mehr als zwei Jahrzehnten unbeirrbar auf dem Weg der Demokratisierung voranschreitet, wenn auch mit Rückschlägen. Ein solcher Rückschlag geschah am 27.April dieses Jahres, als die Armee auf den uralten Trick eines Memorandums zurückgriff, um die Wahl des türkischen Außenministers Abdullah Gül, eines gemäßigten Politikers mit islamistischer Vergangenheit, zum Präsidenten des Landes zu verhindern.

Spätestens seit diesem Tag sollte man eigentlich von einer Krise sprechen. Andererseits jedoch gilt: Krisen in der Türkei sehen anders aus. Nach einem Memorandum des Militärs reagiert die Bevölkerung normalerweise panisch, die Lira verliert massiv an Wert, und die Regierung ist handlungsunfähig. Nichts davon geschah diesmal! Die Bevölkerung blieb ruhig, die Lira blieb stabil, und die Regierung ist zwar unter Druck, aber alles andere als handlungsunfähig. Was ist also geschehen und was ist für die nächste Zeit zu erwarten?

Zum einen ist die jetzige Krise ein normales Symptom jener Transformation, die alle EU-Kandidaten durchmachen: Sobald die ersten Reformen zu greifen beginnen, sträuben sich jene Gesellschaftsgruppen, die sich als Verlierer der Reformen wähnen. In diesem Fall war es die Armee, die in der Tat um ihren Einfluss bangen muss. Denn die Kombination aus EU-Reform und dem energischen Abdullah Gül als Staatspräsidenten wäre in der Tat eine Garantie dafür, dass die Armee der zivilen Gewalt untergeordnet würde. Erschwert wird die Situation freilich dadurch, dass Ideologien in der Türkei noch immer eine Rolle spielen, zum einen steht das türkische Militär an der Spitze einer Bürokratie, die sich nach wie vor als Hüter des Kemalismus sieht.

Signale für konservative Kernwähle

Zum anderen gilt die Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) Güls als Partei mit islamistischer Vergangenheit - und viele zweifeln, dass die AKP tatsächlich dem politischen Islam abgeschworen hat. Diese Zweifel scheinen unberechtigt angesichts der vielen gegenteiligen öffentlichen Erklärungen seitens der Parteispitze. Tatsache bleibt jedoch, dass die Partei auf allen Ebene kleine Signale in Richtung ihrer islamistischen und konservativen Kernwählerschicht macht, welche die säkular orientierten Teile der Gesellschaft irritieren. Noch vor zehn Jahren konnte man aus den Kreisen um Erdogan hören, dass Scharia und Demokratie eigentlich dasselbe seien, ganz zu schweigen von der Affäre um den Ehebruch-Paragrafen im türkischen Strafgesetzbuch aus dem Jahre 2004, welche pro-türkische Kreise in Brüssel zutiefst verstörte.

Viel besorgniserregender ist jedoch, dass nach einem Monat der Massendemonstration weder Parteichef und Premierminister Erdogan noch Abdullah Gül das Anliegen der Demonstranten verstanden. Erdogan, offensichtlich in einer Geste des Entgegenkommens, ging so weit, zu sagen, dass Religion und Säkularismus nur Werkzeuge seien, die das Ziel hätten, die Menschen glücklich zu machen. Für sich allein genommen wäre das als Absage an den politischen Islam deutlich genug. Warum aber präzisiert er dann, dass nur der Staat säkular sein kann, nicht jedoch Individuen, nachdem mehr als zwei Millionen Menschen, vorwiegend Frauen, für ihre individuelle Freiheit und den Säkularismus in der Gesellschaft demonstriert hatten?

Brandreden auch gegen die EU

Überhaupt, die Massendemonstration: Für die einen sind sie ermutigende Lebenszeichen einer an Bedeutung zunehmenden Zivilgesellschaft, für die anderen sind sie bloß die von der Armee und ihr nahestehenden Gruppen mobilisierte Straße. Ironischerweise waren bis vor Kurzem beide Positionen gerechtfertigt. Der Armee nahestehende Organisationen, vor allem kemalistische und nationalistische Vereine, bildeten unter der Führung eines pensionierten Generals der Gendarmerie das organisatorische Rückgrat. Das erklärt, warum nur kemalistische Redner zu Wort kamen, die meistens anti-imperialistische Brandreden im Stil der 1970er von sich gaben, in denen auch die EU ihr Fett abbekam.

Allerdings stellte sich sehr schnell heraus, dass die "Massen" Bürger waren, die für ihre eigenen Anliegen, die nur zum Teil mit den Wünschen der Militärs deckungsgleich waren, auf die Straße gingen. Das führte zu ironischen Situationen, wenn zum Beispiel ein links-kemalistischer Redner die Rückkehr zur staatlichen Planwirtschaft forderte, wobei das Publikum aus jungen, erfolgreichen Wirtschaftstreibenden bestand, die ihren Wohlstand den von der AKP durchgesetzten Reformen verdanken. Diese professionelle Mittelschicht - angeführt übrigens von den Frauen und den energischen Frauenverbänden - ging auf die Straße, um gegen die schleichende Islamisierung in der Gesellschaft und die Ineffizienz der säkularistischen Parteien zu demonstrieren. Sobald die Armee aber versuchte, ähnliche Demonstrationen für ihre Anti-Terror-(lies: Anti-PKK) Kampagne zu organisieren, kündigte sie ihre Gefolgschaft auf. Spätestens ab diesem Zeitpunkt müssen alle politischen Kräfte das Selbstbewusstsein und die Unabhängigkeit der säkularen, liberalen Mittelschicht in ihr politisches Kalkül mit einbeziehen.

Auf sicherheitspolitische Karte gesetzt

Um die AKP zu schwächen, setzte das Militär ganz auf die sicherheitspolitische Karte. Inmitten der aufgeheizten, nationalistischen Stimmung wurde sogar mit einem Einmarsch in den Irak gedroht. Dieses Klima nützt freilich in erster Linie den beiden nationalistischen Parteien CHP und MHP, beide werden mit Sicherheit im nächsten Parlament vertreten sein. Die Frage ist nur, wie stark die AKP, die wahrscheinlich stimmenstärkste Partei bleiben wird, verliert.

Sobald die Parlamentswahlen vom 22.Juli geschlagen sind, muss ein Termin für die Präsidentschaftswahlen bestimmt werden. Schließlich war es ja eine Intervention gegen die Wahl Güls zum Präsidenten, welche die jetzige Situation zur Folge hatte. Hier hat nun der Verfassungsgerichtshof zu Gunsten von direkten Volkswahlen entschieden, sodass das zukünftige Parlament, in welcher Zusammensetzung auch immer, keine Rolle mehr spielt. Interessant ist dann zu wissen, ob die AKP Gül wieder aufstellt und wie dann das Militär reagieren wird. Fest steht, dass das Memorandum vom 27. April wohl die letzte Karte des Militärs gewesen sein dürfte, da eine direkte militärische Intervention nun unmöglich ist - weil sich die Türkei eben verändert hat.