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Das Ende der Vieldeutigkeit

Es ist eine Binsenweisheit, dass jede Krise auch Chancen in sich birgt. Ob dies im Falle der Irak-Krise auch für die Europäische Union gilt, erscheint allerdings fraglich. Welche Konsequenzen werden die Mitgliedsstaaten aus dem offenen Zerwürfnis der letzten Wochen ziehen? Ist es möglich, nach Beendigung der Krise einfach wieder zur Tagesordnung überzugehen? Oder hat sich etwas Grundsätzliches verändert, das die europäische Konstruktion als Ganzes in Frage stellt? Ökonomischer Wohlstand, weltpolitische Abstinenz, und ein gutes Verhältnis zur Supermacht USA - diese Maxime kennzeichnen die Politik der meisten EU-Mitglieder. Solange sich die Europäer damit zufrieden geben, wird ihre gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) ein bescheidenes Unterfangen bleiben. Es stimmt zwar, dass die EU zivile Fähigkeiten zur langfristigen Krisenprävention entwickelt hat und nun auch eine bescheidene Eingreiftruppe zum militärischen Krisenmanagement aufbaut. Die politischen Ziele aber, denen diese Instrumente dienen sollen, bleiben schwammig. Die Betonung von ,,soft security" ist oft als Markenzeichen der GASP beschworen worden, als Nukleus einer sich herausbildenden gemeinsamen Sicherheitskultur. Die Irak-Krise hat dies als Schönfärberei entlarvt. Wenn sich die EU überhaupt in der Welt engagiert, dann meist nur finanziell und ohne eigenen politischen Gestaltungswillen. Sobald es - wie jetzt im Irak - zu einer wirklichen Krise kommt, spielt die EU überhaupt keine Rolle mehr. Diese Abstinenz spiegelt einen Mangel an gemeinsamer Vision und Willen wider, der sich durch die Erweiterung noch verschlimmern dürfte. Die EU konnte sich auf Scheckbuch-Diplomatie beschränken, solange die Weltpolitik keine wirklichen Herausforderungen an sie stellte. Seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 ist es damit vorbei. In der neuen Welt(un)ordnung obliegt es in erster Linie Europa, klarzumachen, dass simple Antworten nicht weiterhelfen. Und wer sonst sollte darauf insistieren, dass es neben Terrorismus und Massenvernichtungswaffen eine Vielzahl brennender Probleme gibt, die verantwortliches Handeln erfordern? Sei es der Schutz der natürlichen Ressourcen, der Kampf gegen Unterentwicklung, die friedliche Lösung regionaler Konflikte, die Stärkung multilateraler Institutionen oder die weltweite Förderung von Demokratie und Menschenrechten: Europa muss für all diese Aufgaben eigene Lösungen entwickeln und an ihrer Umsetzung arbeiten - gerade wenn die USA eine andere Agenda verfolgen. Wenn die Europäer ihrer Verantwortung in der Welt gerecht werden wollen, müssen sie sich unangenehmen Wahrheiten stellen. Die Zeit der Vieldeutigkeiten ist zu Ende. Die traditionelle Methode der EU, Divergenzen über Grundsätzliches auszuklammern, trägt nicht mehr dauerhaft. Sie erlaubt allenfalls vermeintliche Fortschritte, die einem wirklichen Belastungstest nicht standhalten. Eine ernsthafte Politik setzt einen Grundkonsens über das Wesentliche voraus: Was sind unsere Ambitionen, und wie ernst nehmen wir sie? Wollen wir uns auf eine Zuschauerrolle im Wohlstand beschränken? Falls nicht, wie müssen wir unser Verhältnis zueinander ordnen, um Verantwortung übernehmen zu können? Und sind wir zu einer solchen Neuordnung wirklich bereit? Umfragen belegen, dass fast überall in der EU die Bürger eine GASP wollen, die diesen Namen auch verdient. Der Ball ist demnach bei den politisch Verantwortlichen. Dennoch ist nicht erkennbar, wie die GASP in der gegenwärtigen Konstellation mehr als Minimalkompromisse hervorbringen sollte. Daher sollte eine Koalition der Willigen vorangehen und eine sicherheits- und verteidigungspolitische Union (VU) gründen. Sie sollten diesen Schritt jenseits der Arbeiten im EU-Konvent vollziehen: Dessen Aufgabe ist es, die Institutionen zu reformieren und die Zuständigkeiten zu klären, um die EU auf die Erweiterung vorzubereiten. In der VU würde sich dagegen eine Kerngruppe zusammenschliessen, um gemeinsam zu einer substanziellen Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu kommen. Eine solche VU wäre mit NATO und EU vereinbar, weil ihre Mitglieder voll und ganz zu ihren bestehenden Verpflichtungen stünden. Ihre Grundlage wäre eine bindende Verpflichtung, gegenüber dem Rest der Welt eine gemeinsame Politik zu vertreten, die im Einklang mit den erklärten Prinzipien und Werten der EU steht. Gleichzeitig sollten sich die Mitglieder dazu verpflichten, über die rein zwischenstaatliche Zusammenarbeit hinauszugehen und schrittweise ihre auswärtigen Dienste, Sicherheitsapparate und - als letztes Ziel - ihre Streitkräfte zu integrieren. Eine solche Union würde eng mit der UNO zusammenarbeiten und für niemanden eine Bedrohung darstellen. Allerdings müsste sie sich auch glaubhafte Mittel zur Durchsetzung ihrer Politik geben. Die Bürger der beteiligten Staaten müssten akzeptieren, dass weltpolitische Verantwortung nicht umsonst ist, sondern zum einen Mehrausgaben für Entwicklung, Äußeres und Verteidigung bedeutet und zum anderen die Bereitschaft zum Einsatz militärischer Macht. Eine glaubwürdige VU ist nur auf deutsch-französischer Grundlage denkbar. Dies wiederum bedeutet eine enorme Herausforderung für alle Beteiligten: Erstens haben auch Frankreich und Deutschland traditionell höchst unterschiedliche außenpolitische Ambitionen und Konzepte, gerade was den Gebrauch militärischer Macht angeht. Diese Divergenzen zu überwinden, ist alles andere als einfach. Sollte ein Ausgleich aber gelingen, böte er inhaltlich eine tragfähige Grundlage für die Beteiligung weiterer europäischer Staaten. Zweitens misstrauen Europäer traditionell jedem deutsch-französischen Führungsanspruch. Dieses Misstrauen lässt sich nur überwinden, wenn beide Länder einen wirklich europäischen Ansatz entwickeln. Die Zusammenarbeit in der VU muss zum Modell der europäischen Kooperation werden und weit über das klassische Schachern um nationale Interessen gehen. Drittens müssen alle Beteiligten darauf achten, den Zusammenschluss nicht als Affront gegenüber den USA oder das ,,neue" Europa erscheinen zu lassen. Es geht nicht darum, Gräben zu vertiefen, sondern eine gewisse Eigenständigkeit zu sichern und der eigenen Stimme größeres Gewicht zu verschaffen. All dies setzt viel Selbstüberwindung, Fingerspitzengefühl und Durchsetzungskraft voraus. Doch die Mühen sollten sich lohnen. Schließlich ist die Zeit der Vieldeutigkeit abgelaufen.